Vor 30 Jahren, am frühen Morgen des 26. April 1986, als die orthodoxe Kirche kurz davor war, in eine der heiligsten Wochen einzutreten, die zur Osterfreude führt, explodierte in der Ukraine das Kernkraftwerk Tschornobyl und verursachte die schlimmste nukleare Katastrophe, die die Welt bisher je gesehen hatte.
Die Folgen der Katastrophe waren vieldimensional: Die kontaminierten radioaktiven Partikel breiteten sich auf Russland, Weißrussland sowie auf Länder im Norden und Westen aus. Es entstanden menschenleere und große ökologisch zerstörte Gebiete.Es kam zu langfristigen und dauerhaften Gesundheitsschäden bei Menschen, wobei der Verlust von Menschenleben auf eine Million vorzeitiger Todesfälle geschätzt wird.
Welchen Schluss können wir vor diesem schmerzhaften Hintergrund der Erfahrung und des Wissens als gewissenhafte Bürger ziehen? Was können wir als engagierte Gläubige beschließen? Und was können wir als verantwortliche Führer erklären?
Erstens dürfen wir es nie vergessen. Wir müssen es immer in Erinnerung behalten. Wir müssen all derer gedenken, die bekannt und unbekannt sind, die infolge unseres Handelns ihr Leben verloren haben, ebenso wie wir die tragischen Folgen unseres Versagens in unseren Herzen und Gedanken lebendig halten müssen. Die Erinnerung ist ein kraftvolles Attribut in der Religion, vor allem im Christentum, wo es zu einer transformierenden Kraft wird. Es ist die Art und Weise, in der wir auf die Vergangenheit zurückblicken, unsere Haltung ändern, in der Gegenwart handeln und Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Zweitens haben wir einen Punkt in der technologischen Entwicklung erreicht, an dem wir lernen müssen "Nein!" zu sagen, zu Technologien mit zerstörerischen Nebenwirkungen. Wir brauchen dringend eine Ethik der Technik. In der orthodoxen Kirche glauben und bekennen wir, dass Gottes Geist "überall vorhanden ist und alle Dinge füllt" (aus einem Gebet zum Heiligen Geist). Allerdings müssen wir auch dazu übergehen, eine Weltsicht uns zu eigen zu machen, wie es in der biblischen Aussage heißt und bezeugt wird: "Die Erde ist des Herrn und alles was darinnen ist" (Psalm 23,1), so dass wir es unterlassen, der Erde Schaden zuzufügen oder das Leben auf ihr zu zerstören. Wir haben einzigartige Ressourcen eines schönen Planeten geschenkt bekommen. Allerdings sind die unterirdischen Kohlenstoff-Ressourcen nicht unbegrenzt - ob sie das Öl der Arktis oder der Teersand in Kanada sind, ob sie die Kohle von Australien oder das Gas in Osteuropa sind. Darüber hinaus, insbesondere hinsichtlich der Kernenergie, können wir die Effektivität oder die Zuverlässigkeit der Kernenergie vom Gesichtspunkt des finanziellen Profits nicht beurteilen - die Katastrophen von Three Mile Island (1979), Tschornobyl (1986) und Fukushima (2011) haben reichlich gezeigt, welche menschliche, finanzielle und ökologische Kosten entstanden sind. Ebenso wenig, in der Tat, können wir die anderen Probleme der Kernenergie, wie Abfallentsorgung und die Anfälligkeit für Terroranschläge, ignorieren.
Drittens sind wir an einem Punkt in unserer wirtschaftlichen Entwicklung angelangt, wo wir lernen müssen, der Mentalität des Konsums und der Konkurrenz der Marktwirtschaft "Genug!" zu sagen. Es ist Zeit, um ehrlich zu sein mit uns selbst und mit Gott, in der Erkenntnis, dass das christliche Evangelium nicht immer wirklich oder ohne weiteres mit den Wegen der Welt kompatibel ist. In Wirklichkeit zielt die Botschaft von Jesus Christus und der Kirchenväter darauf ab, die rohen Leidenschaften wie Habsucht und Geizigkeit zurückzuhalten.
Schließlich haben wir einen Punkt in unserer globalen Zivilisation erreicht, an dem wir lernen müssen "Ja!" zu sagen zu einer anderen Wirklichkeit jenseits uns selbst, dem Schöpfer aller Schöpfung. Vor ihm sollten wir in Demut und Hingabe knien und im Gebet erkennen, dass er und alles, was er geschaffen hat, allen zur Verfügung steht, nicht nur unseren eigenen egoistischen Wünschen. Vielleicht besteht die größte Lektion und Erinnerung von Tschornobyl darin, dass wir die Welt mit allen Menschen teilen müssen. Was wir in dieser Welt und für die Welt tun, beeinflusst das Leben der Menschen - ihre Gesundheit (mit der unschätzbaren Zahl der Krebskranken), ihre Nahrung (mit der unvorstellbaren Kontamination von Lebensmitteln), aber auch zukünftige Generationen (ob mit den unerträglichen Geburtsfehlern und den nicht wahrnehmbaren Auswirkungen auf unsere Kinder). Dies ist die Lektion, die wir, in der Kirche, Gemeinschaft nennen. Es ist die wichtigste Definition von "Gott als die Liebe" (1 Joh 4,8) und der höchste Ausdruck der menschlichen Liebe.
Diese neue Art des Denkens - diese neue Ethik, die auf "einen neuen Himmel und eine neue Erde" (Offb 21,1) ausgerichtet ist - ist das, was in jeder Gemeinde und überall in der Welt gelehrt werden sollte. Tschornobyl sollte eine Lektion über Zurückhaltung und gemeinsame Verantwortung sein. Wir müssen Mitgefühl zeigen, wir müssen Respekt zeigen und wir müssen Frieden machen, nicht nur mit unseren Nachbarn, sondern auch mit der ganzen Schöpfung.
Als die Mutter-Kirche der Ukraine beten wir inständig dafür, dass die Erinnerung an Tschornobyl ewig und nicht vergeblich bleibt.
Ökumenisches Patriarchat, 26. April 2016
✠ Bartholomaios
Erzbischof des Neuen Roms Konstantinopel und Ökumenischer Patriarch